Sa, 18. Mai 15:30 Uhr

6 HOURS, 2 SCORES, 12 ROOMS

Durational performance by Andrea Cusumano and Marino Formenti

Freier Eintritt

© Francesco Montefusco / Hans-Jürgen Hauptmann

6 HOURS, 2 SCORES, 12 ROOMS

Durational performance by Andrea Cusumano and Marino Formenti

Andrea Cusumano performance
Marino Formenti musik
Leo Morello klangregie

6 HOURS, 2 SCORES, 12 ROOMS heißt die für die Räume des nitsch museums in Mistelbach konzipierte Dauerperformance von Andrea Cusumano und Marino Formenti.
Sie ist zugleich einheitlich und parallel: Cusumano und Formenti haben zwei unabhängige Partituren geschrieben, eine performative und eine musikalische, die über die Zeit miteinander in Dialog treten.
Ursprünglicher und gemeinsamer Ausgangspunkt ist ein Gegenstand aus der Familie Cusumano: ein Brief seines deutschen Großvaters, den er mitten im Zweiten Weltkrieg von der Front an den eigenen Sohn geschrieben hatte. Ein Element, das die Werke von Cusumano und Formenti verbindet, ist eine expressive, archaische Kraft.
Die beiden Partituren
OGGI S‘INNALZA TACITO E CUPO
(„Heute steigt er schroff und finster“) von Andrea Cusumano
und
FUNERALE DELLA MEMORIA
(„Begräbnis der Erinnerung“) von Marino Formenti für Player Piano,
Kirchenglocken u.a., ergeben zusammen
6 HOURS, 2 SCORES, 12 ROOMS

Anmeldung zur Performance erbeten: anmeldung@nitschmuseum.at

Andrea Cusumano ist Multimedia-Künstler, Performer, Regisseur. 

Seine Arbeiten wurden auf internationalen Festivals von New York bis New Dehli ausgestellt. Seit 1998 ist musikalischer Leiter des Orgien Mysterien Theaters. Er unterrichtete Theater und Performance an der renommierten Goldsmith University in London, und auf Central Saint Martins, war Stadtrat für Kultur in Palermo und Gründer bzw.  künstlerischer Leiter der BAM – Biennale Arcipelago Mediterraneo, Palermo. Derzeit lebt und arbeitet er in Palermo, wo er das CeSDAS (Centre of Experimentation for Applied Dramaturgy in Space) leitet. 

Marino Formenti ist Pianist, Komponist, Performer, Dirigent.
"Best of New York Times" 2015, "A Glenn Gould for the XXI Century "(L.A. Times). Installationen und Performances @ Palais de Tokio Paris, Art Basel, MUMOK Wien, Albertina u.a. 
Kollaborationen mit Georg Baselitz, Michael Haneke - und Gustavo Dudamel, Maurizio Pollini u.a.
Artist in Residence @ Lincoln Center New York, Beethovenfest Bonn u.a. Dirigent @ Teatro alla Scala, Salle Pleyel Paris u.a.
Belmont-Preis für Zeitgenössische Musik München 2008
Formenti und Cusumano verbindet eine künstlerische und persönliche Freundschaft seit den 90-er Jahren.

Gemeinsam arbeiteten Sie an: 
MISSA (Wiener Konzerthaus, 1997)
"Le Ali della Farfalla" (MADRE Neapel, 2005)
Festival Letterature, Rom 2019

Andrea Cusumano
OGGI S'INNALZA TACITO E CUPO
("Heute steigt er schroff und finster")

Ein weißes Tuch transhumiert in den Weltraum
15:30 Raum 1 (Treppe) Eingang / Eintreten / Absteigen / Betreten

Im Abgrund wohnt die Wahrheit. Ich spiele wie das Kind, das einen Brief von der Front bekommen hat, allein, mit einer kleinen Eisenbahn.
Ich schneide, langsam, meine Haare.
(Jede Tür im Grab des Kinderpharaos ist eine 10-minütige Pause).

16:30 Raum 2 (Korridor) Durchgang / Annäherung / Durchgang / Bewegung 
Jeder Versuch einer Schule, eine Weltanschauung zu erzwingen, führt zum gegenteiligen Ergebnis. 
Die Jakobiner waren Schüler der Jesuitenschulen, die Restaurateure der Jakobinischen. 
Ich trage die Masken der Vergangenheit.

17:30 Raum 3 (Vorzimmer) Totenbuch / Liturgie / Retablo - Offertorium - Götter / Partitur
Die Musik wurde nicht geschrieben, um aufgeführt zu werden, sondern um geweiht zu werden.
Ich konsekriere meine Partitur. Ex-post.

18:30 Raum 4 (Annex) Spielzimmer / Mittagessen / die zwei Welten kommen zusammen 
Gemeinsam ist der Tisch gedeckt, das Abendessen ist verbannt, "non è fugace" "lo scannatore" (der Schlächter"), "cenate e bevete", Weinachten, Mensch ärgere Dich nicht.

19:30 Raum 5 (Sarkophage) Limen / Grabmal / 
Schichtung der Sarkophage / Von einer Welt zur anderen / Reise in die andere / DAS GESICHT in Schichten.

20:30 Raum 6 (Schätze) Allerheiligstes / Nichtmenschliches / Eingeweide / Hostie
Rundgang durch Mistelbach. 
<<Mittwoch, 21. Oktober 1942 während der Schlacht um Stalingrad>>
 Ich wasche die Masken der Vergangenheit ab.  OGGI S'INNALZA TACITO E CUPO, für Darsteller und Raum ist eine 6-stündige Partitur und 6-stündige Aufführung.

Das Werk würde im Dialog mit Formentis Partitur und Performance konzipiert, ist aber als autonome Partitur geschrieben.

Die Arbeit stellt eine Reise durch 6 Zeiträume dar, von denen jeder einen Aspekt von Cusumanos Beziehung zu dem Brief seines Großvaters - einem Offizier des 3. Reichs - darstellt.

Ich erzähle nicht die Geschichte meines Großvaters,
Ich mache keine historische Analyse. 
Ich lege lediglich Zeugnis über diesen Brief ab. 
Objekt. 
Es betrifft einen Brief, der mir gestohlen wurde (im literarischen Fall lautet die Schlussfolgerung: um etwas gut zu verstecken, muss man es so prominent platzieren, dass es uninteressant, unsichtbar wird. Aber ich bin nicht Dupin. Und der Brief wurde mir übrigens rein zufällig weggenommen).
Ich bezeuge, wie er in meine Hände gelangte.
Ich bezeuge, wie er mir gestohlen wurde.
Ich bezeuge, wie ich ihn gerettet hatte, indem ich ihn kopierte.
Ich bezeuge, was ich von dem oft unentzifferbaren Brief lesen konnte.
Ich konnte ihn nicht lesen, seine Lücken...
Ich bezeuge, wie ich in mehreren Etappen ihn übersetzen ließ.
Ich lege Zeugnis ab: von meinen Assoziationen, von einem Jugendgedicht von mir, das den Namen dieses Soldaten, Spengler, trug; und von einer Morgendämmerung, die an den Sonnenuntergang eines Namensvetters erinnert, der über den Sonnenuntergang des Westens berichtete; und von dem ich den Titel meiner Performance-Partitur borgte.
Ich lege von meiner Gegenwart Zeugnis ab, von einfachen Dingen, von Gegenständen; von Tatsachen, die vor meinen Augen und ohne offensichtliche Erklärung geschehen. Ich lege Zeugnis ab: von meiner x-ten Begegnung mit Marino und seinen, unseren 6 Räumen von Tutankhamun.
Und um zu sagen, dass ich seinen Vater Amenophys IV. und seine Frau, Schönste unter den Schönsten, seit jeher bewundere.

Marino Formenti
FUNERALE DELLA MEMORIA
("Begräbnis der Erinnerung")

15.30    NOTHING 
16.30    PASSAGE 
17.30    DEAD 
18.30    THE JEW'S ROOM 
19.30    RW NW PRT M HRW 
20.30    VISCERA

FUNERALE DELLA MEMORIA für Klavier, Kirchenglocken, Kassettenrecorder, Stimme des Pianisten ist einerseits eine 6-stündige Partitur - andererseits eine 6-stündige Aufführung. 

Die Partitur ist selbstverständlich NICHT die Performance.
Das Werk ist im Dialog mit der Partitur von Andrea Cusumano entstanden, doch es soll als eigenständiges Werk gesehen werden. 
Es kann und soll auch allein aufgeführt werden.

Was mich an Andreas Geschichte und dem Brief seines Großvaters von der Front des Zweiten Weltkriegs fasziniert und erschreckt, ist die Idee der unverständlichen Blatts: der mitterweile nur noch weißen, völlig leeren Seite. Mich fasziniert und erschreckt der unaufhaltsame Gedächtnisverlust, das uns kennzeichnet: uns intelligenten und extrem sammelnden Affen, die auf unser Erinnerungsvermögen so wahnsinnig stolz wären. 

Und die Unmöglichkeit des Übersetzens; des Trädierens; des Verstehens.

In "FUNERALE DELLA MEMORIA" werden meine persönliche Erinnerung und unsere kollektive Erinnerungen (die ich alle als Schichten von mir selbst betrachte) in Form von musikalischen Materialien beschädigt, zerstört, auf ganz einfache Impulse reduziert, in Linien verwandelt - und dann gelöscht, getötet.

Das Material ist irgendwie auf drei Ebenen organisiert:

- Eine (wenn man will) mythologische Ebene, auf der älteste Urzeichen "meiner" Kultur behandelt bis miss-handelt werden; etwa Texte und Materialien vom antiken Babylon, von Ägypten; die allerälteste (Hurritische) Musiknotationen; Texte und Zeichen der Native Americans als Inbegriff der Zerstörung, eher der: regelrechten Vernichtung.

- Eine historischere Ebene, die im offensichtlichen Dialog mit Andreas Brief entstanden ist; und Lieder und Märsche aus der Kindheit meiner Eltern und Großeltern umfasst. 

Es ist angesichts dieses Materials, dass der Verlust des Gedächtnisses richtig beschämend wird. Denn es wird schmerzhaft greifbar, dass wir, indem wir vergessen, immer und immer wieder selbst die abstoßendsten Fehler wiederholen, heute, gerade jetzt und wieder und wieder.

- Eine persönliche, intimste Ebene: mit u.a. Lieder meiner Mutter und meiner frühesten Kindheit.

Ich habe mir 6 Stunden als 6 Räume vorgestellt, wie Orte, die man durchquert. Ich stieß zufällig auf die architektonische Anordnung des Grabes des Pharaos Tutanchamun, der im Alter von 18 Jahren starb. 

Das Grab war aufgeteilt in sechs Räume, und ich beschloß, meine sechs Stunden formell irgendwie danach zu planen. 

Die Form dieses Grabes ist für mich nichts mehr als ein weiteres Erinnerungsfragment in Form einer Karte; einen, dessen Bedeutung es sozusagen auch zu zerstören gilt; das gab mir jedoch Mut, inspirierte mich weiter.

Die Stätte war jedenfalls in folgende sechs Räume unterteilt: einen Eingang - eine Passage - ein Hauptzimmer mit dem Buch der Toten - einen Seitenraum mit Essen und Spielen - den eigentlichen Sarkophag, bestehend aus 9 ineinander greifenden Räumen - und ein abschließendes sancta sanctorum, wo nur noch die lebenswichtige Organe aufbewahrt wurden. 

Später entdeckte ich, dass Sigmund Freud - leidenschaftlicher Ägyptologe - sein Apartment/Studio in der Berggasse in Wien nach dem Grab Tutanchamuns gestaltet hatte:

(Tutanchamun) Eingang            Patio (Freud)

(Tutanchamun) Passage            Eingang (Freud)

(Tutanchamun) Hauptzimmer     Vorzimmer (Freud)

(Tutanchamun) Nebenraum       Nebenraum (Freud)

(Tutanchamun) Sarg                 Therapieraum (Freud)

(Tutanchamun) Schatz              Studie (Freud)

Meine sechs Stunden heißen:

15.30     NOTHING 
16.30     PASSAGE 
17.30     DEAD 
18.30     THE JEW'S ROOM 
19.30     RW NW PRT M HRW 
20.30     VISCERA

Über  THE JEW'S ROOM: Während des Zweiten Weltkrieges hatte sich ein verfolgter jüdischer Herr bei meiner Großmutter verstecken müssen (bei uns in der italienischen Provinz, nördlich von Milano). 

Nach einiger Zeit, als er gezwungen wurde, weiter zu fliehen, fragte er meine Großmutter, ob er alles, was er besaß, in seinem Zimmer vorübergehend zurücklassen könne. Die Großmutter stimmte zu und verschloss den Raum für immer. Nach dem Krieg kehrte der Herr lange nicht zurück; Alle fragten sich, was mit ihm passiert sei. Doch die Großmutter weigerte sich, den Raum zu öffnen, das Zimmer war ständig verschlossen, versiegelt. 

Nach Monaten oder Jahren kehrte dieser Herr endlich zurück und Großmutter öffnete schließlich den Raum. Es war ein Zimmer inmitten des Hauses, wie ein für Erwachsenen und Kindern angstgeladenes Mahnmal, ein geheimnisumwobenes Non-Lieu.

Der Kassettenrekorder ist bereits ein totes Objekt. Und es eignet sich optimal, um Dinge zu vernichten.

Zu den Glocken: möge Herrmann Nitsch sich daran auch ein wenig ergötzen, ist ja auch eine Hommage an seine Zuversicht. 

Ich bin von ihren Klängen umzingelt, in katholischen Tälern aufgewachsen. Mich haben sie immer - und ständig - an meinen Tod erinnert: jedes einzige Mal. (Außer vielleicht in Prinzendorf).

Während der 6 Stunden behandle ich sie mit 6 verschiedenen Gruppen von Materialien/Geräuschen: Kunststoff/Papier/Gummi, Stein, Metall, Glas, Ton/Porzellan/Keramik, Holz.

Das Player Piano kann so un-menschlich sein, dass es mir endlich helfen könnte, zu verschwinden.

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